Niels Sievers
la macchina

Die Gläser sind voll – oder auch halbleer. Die Nacht ist noch jung – oder der Tag bricht schon an. Es wird vor einem guten Glas Roten in sehnsüchtiger Vorfreude auf die Verabredung gewartet – oder aber der Wein dient dazu, den Einen / die Eine zu vergessen. Niels Sievers lässt den Interpretationsspielraum weit in seiner jüngsten Werkreihe. Ebenso weit und luftig ist die Malerei, in der vermeintliche Leerstellen unbemalter Leinwand mithin die wichtigsten Teile des Sujets ausmachen.

Einerseits kommen die neuen Arbeiten überraschend daher: kennt und schätzt man Niels Sievers doch seit Jahren für seine wie Preziosen sorgsam ausgearbeiteten, filigranen Landschaften. Hell Schimmernd bis hin zu düster opak können sie sein – aber stets sind sie ohne die menschliche Anwesenheit im Bild komponiert. Nun scheint es, als hätte er als dies ins gerade Gegenteil verkehrt: Plötzlich sind Menschen überall, die Szenen sind urban, der Malstil locker und ohne jede Angst vor der Präsentation des nackten Malgrundes, völlig unbedeckt von Farbe. Die auf den ersten Blick beim Betrachter einsetzende Verwirrung legt sich jedoch schnell und weicht einem Verstehen, dass scheinbare Gegensätze nichts Ausschließendes bedeuten müssen. Der Strich, die Malerei lässt den Urheber erkennen. Das macht einen reifen Künstler aus: Serien können sich optisch stark unterscheiden, die zur Marke gewordene Handschrift bleibt sich treu. Und auch die Frage nach der Auswahl des Motives – Stadt oder Land, Mensch oder Natur, Tag oder Nacht -relativiert sich schnell im eingehenden Studium der Bilder des in Berlin lebenden Künstlers: es geht immer und überall um die existentiellen Fragen nach Zeit, Emotion und dem Leben an sich.

Das gedankliche Aufblitzen eines „Das kenne ich doch, da war ich schon – war ich vielleicht sogar dabei?“ kommt unweigerlich im Angesicht der neuen Werke von Niels Sievers zustande. Und verkehrt sich genauso schnell wieder in eine Art von Allgemeingültigkeit, Entpersonalisierung der Szene. Dies könnte man zunächst mit dem Fehlen konkret ausgearbeiteter Gesichtszüge bei den Protagonisten in den Bildern erklären. Es geht jedoch darüber hinaus, denn die gesamte Komposition vermittelt dieses Gefühl: Ein erstes Erkennen, welches sich schnell wie ein Windhauch wieder verflüchtigt und dann für uns nicht mehr zu fassen ist. Dieses auf die Leinwand gebrachte Schwingen zwischen den Polen spricht zu denjenigen, die es kennen und schätzen: Sometimes the chase is better than the catch – das Streben nach Erkenntnis sollte lebenslang dauern. Sonst wäre es auch zu langweilig.

Julia Ritterskamp – August 2021

 

Niels Sievers
la macchina

The glasses are full – or half-empty. The night is still young – or the day is already dawning. In front of a good glass of red, people wait in longing anticipation for the date – or else the wine serves to forget the one / the one. Niels Sievers leaves a broad scope for interpretation in his latest series of works. Equally wide and airy is the painting, in which supposed voids of unpainted canvas thus make up the most important parts of the subject.

On the one hand, the new works come across as a surprise: after all, Niels Sievers has been known and appreciated for years for his carefully crafted, filigree landscapes. Bright shimmering to gloomy opaque they can be – but they are always composed without the human presence in the picture. Now it seems that he has turned this into the exact opposite: suddenly, people are everywhere, the scenes are urban, the painting style loose and without any fear of presenting the naked painting ground, completely uncovered by color. The confusion that sets in at first glance with the viewer, however, quickly settles down and gives way to an understanding that apparent contrasts need not mean anything exclusive. The stroke, the painting allows the originator to be recognized. This is what makes a mature artist: Series can be visually very different, the handwriting that has become a brand remains true to itself. And even the question of the choice of motif – city or country, humankind or nature, day or night – quickly relativizes itself in the detailed study of the paintings of the Berlin-based artist: it is always and everywhere about the existential questions of time, emotion and life itself.

The mental flashing of „I know that, I’ve been there – was I perhaps even there?“ inevitably occurs in the face of Niels Sievers‘ new works. And just as quickly turns back into a kind of general validity, depersonalization of the scene. At first, this could be explained by the lack of concretely elaborated facial features in the protagonists in the paintings. However, it goes beyond that because the entire composition conveys this feeling: an initial recognition, which quickly evaporates again like a breeze and is then beyond our grasp. This oscillation between the poles brought to the canvas speaks to those who know and appreciate it:
Sometimes the chase is better than the catch – the pursuit of knowledge should last a lifetime. Otherwise, it would also be too boring.

Julia Ritterskamp, August 2021 (Translation: Uli Nickel)

 

WIE GEMALT: DIE VERSUCHUNG DER ZUKUNFT
(GESTERN HEUTE, GESTERN MORGEN)
DER MALER ALS FOTOGRAFIKANT VERGANGENER ZEIT
Versuchung über den Künstler Niels Sievers und die Arbeit der Zukunft

Nichts scheint so sicher, dass wir sterben. Wenn Sie es also meinen. Wird schon stimmen. Ich sage und schreibe: Wir sterben aber noch nicht. Weil ich es so gehört habe. Noch nicht. Wir doch nicht, nicht gleich, heute noch nicht. Wir sterben heute noch nicht. Wir sterben jetzt heute noch nicht.
Das scheinbar miese Spucken auf aufdämmernde Generationen macht ohne Umschweife Risse in Bildern. Es lässt den Mythos Oberfläche wie all das unter einem Bild versteckte ohne viel Federn, lies es, zerfleischend zerfleischt zurück. Die Zukunft mag vegan sein, doch ihre kahlen Farben streichen jetzt schon den Text zusammen, zu einer mir ohne Ausweg siech gemalten Gemahlin, ich treu wie lose Gemahl, sehe Kaffeetassen an geränderter Straße. Doch die abgeschauten Frauen haben kein Gesicht für mich, nicht heute, nie mehr. Alle Spiegel sind entleert, der Stoff bleibt unbehandelt. Gesichte, die ich nicht sah. Geister, die ich nicht rufen konnte, nur jemand anders. Gespenstisch. Der Mythos Leben, den ich nicht greifen kann, den ich doch hören, schmecken möchte, versinnlost. Er schießt mich aus feldgrau blickenden Augen an, aus einem Jahrhundert, Jahrtausend, das ich nicht mehr oder noch nicht kenne.
Wir, so leben? In bildhaftem Sterben? Hafen des Bildes, Ateliers, Museen, SammlerInnen, Tod und Teufel, aber: Sterben, nein, heute noch nicht, nicht die Bohne. Heute noch nicht, weil wir, busy girlsboysgirlsboysgirlsboysthgs zum Beispiel an einer Arbeit sind. Ja, Arbeit, wie: arbeiten, anmalen, ableben, schreiben, ausstreichen, streben, sterben, leben, weiter, sterben, soviel ist sicher, aber das heute noch nicht. Was schon mal so viel heißt, wie: heißt auch gestern noch nicht, heißt übermorgen: auch morgen noch nicht.
Die Risse in der Spur manchen Denkens werden größer, aber noch wandern wir, Bild für Bild, Schatten für Schatten, spurgetreu weiter. Was den Spalt vergrößert, müssen wir sagen, sind die zeitbefreiten Differenzen im Werk von Niels Sievers. Er, immer hier, hart am Werk, in eine Art Nähe zurückblickend. Uns nah sein. So muss er, auch mal, zu einem Bier, oder einem Bild, nein sagen. Er trank das Bier dann doch, kühl, schüttete mir lieber sein Öl über den Kopf, cool. Jeder ist sich selbst der Nächste. Was ist wichtiger? Könne das mal, Du, blickst du zurück, kann das mal. Mal das mal. Verschütte Dich. Vergib Dir.
Ich tue es nicht, falls Du Dich nicht zu mir denkst. Heute, so um Mittag, habe ich noch nicht das mir vorgestellt gemalte aus dem Kopf geköpft, verkopft, erste Skizzen, Zeichnungen aufgeschrieben, sozusagen. Vielleicht, ja, nein, ja, ja, nein, ein vielleicht, eine Ankündigung. Beöle die Leinwand mit einem Foto von Gestern, Heute, nicht. Keine Zeit. Nicht das. Heute wird das Heute ja erst, fast wie zufällig, im falschen, dummen Ernst der online egos, fotografiert, getwittert, beschrieben, vernichtet, verliebt, vergessen. Das Öl gießt Niels Sievers lieber über, heute aber nicht unbedingt, das Gestern aus. Beiläufig. So halbe Kanne rein, hinein in ein Morgen des 22. Jahrhunderts, so viel kann man hier dazu sagen. Da lehne ich mich gerne aus einem Fenster, gern Richtung Kaffee und Wein und Boulevard. Und ich sehe so vieles. Ich, Gestern Morgen: Ligurisches Licht, gepaart mit Nordseesonne und Berliner Boulevards, liebst du das, möchtest du das sehen? Doch wer fotografiert dir das?
Frau Niemand. Es gibt diesen Raum nicht, in keiner Zeit, der Platz im Raum des Raumes erschafft sich seine Zeit und seinen Rahmen erst in einem Kopf, erst Wort, einem Blick, einem Blick auf uns, euch, vielleicht gerochen nur in einer unwahren, gelogenen Spur einer gestern behaupteten Geschichte, die es nie geben wird, die es aber doch gegeben hat, wortarm, wortreich, hin oder und her, gegeben haben muss. Weil es Niels Sievers, so viel kann guten Gewissens behauptet werden, gestern auch schon gegeben hat.
Gegeben haben muss, muss, und das muss gemalt werden. Denn fotografiert hat es, mal wieder, ihr kriechenden Ärsche, das Gestern, gestern keiner von euch allen. Ging eben nicht. Und heute auch nicht, denn ist ja auch schon wieder vorbei, soeben, und morgen gibt es das noch zu sinnende schon noch nicht mehr, weil es Morgen noch gar nicht gibt, weil wir noch gar nicht wissen, können, wie es geht, wie, ob das geht, morgen leben. Aber sehe, da: Weil wir damit genüglich beschäftigt sind, zu schreiben, zu malen, wie es uns dabei ergeht, heute eben noch nicht nicht das nichts zu malen und nicht nichts zu schreiben und nicht zu sterben, zu lieben, zu küssen, zu sehen, zu riechen, gesehen zu werden, be- und entsamt, erdacht, gefühlt zu werden.
Und ja, ich will ja leben, und du auch. Da drin, das bin ich, in diesem Bild, als wäre es gestern gewesen. In diesem Schatten, da findest du mich, gepackt in fahle Unfarbigkeit. Wie ich mir selber die Szene mache, wie es mich ausmalet, wie Szenen weitergehen, no Ahnung. Spielst mir ein Lied vom Nicht-Tod dazu. Ein Lied für Niels Sievers und FreundInnen, zur Party vielleicht, vieles könnte damit leichter gehen, aber Vorsicht, Dummchen: Fast jedes Lied darf inzwischen, privat wie öffentlich, eine Falle sein, ist es, Stück für Stück. Sound, Herrgott nochmal. Pop. Nur lang abgerissene Spur in das zurück Gebliebene. Dazu Du, in die Falle fallend, Sack in einer Gasse, in der Du liegend liegst, demusikalisiert, halbfaul, mit den falschen Farben im Gesicht, all that Jazz.
Das war’s.
Das war’s, wirklich? Wie einer malt, und warum, und warum die verfluchten Bilder am Ende doch nur immer von irgendeiner rechtzeitig aufscheinenden Flutkatastrophe weggeflutet werden, in ein bleiches unbekanntes Morgen hinein, das alles kann ich hier nicht aufschreiben. Weil ich es nicht weiß. Weil ich, zudem, auch, nicht viel von über Wasser weiß. Dich, Wissen, das weiße, de-weise, das mir von Euch allen, die auf mich blicken, zu gemalte, zu gedachte, wortlos hin geschriebene, dieses Brot eines Bildes von meinem von mir so genannten Leben, was war und was sein wird, das malt die MalerIn meines Lebens, und kein Fotograf, denn der ist ja im keinem großen eingefassten, tatsächlichen heute, ist nicht da, ist nie da, in exakt dem Blick des Auges, dem Augen-Blick, wenn man ihn bräuchte, wie jetzt zum Beispiel.
Aber der Maler. Der von gestern, der das morgen malt, im besten Falle, als gäbe es kein Heute, der hat mich und Dich, und dich auch, eben irgendwo schon mal gesehen, gehört, gelesen, gesprochen. Darauf einen Toast, und er schenkt mir einen ein, mit Öl, das immer sauber klingt, das super riecht, das klasse aussieht. Das niemals wegrennt, auch dann nicht, wenn es gerade das leckere Sehen erfindet, auf, an der Wand, die mich blindlings wie verständlich spiegelt, mich klar benennt. Dich im Schreiben anblickt, auf mich zurückblickt, wie Dich, Du, ich, der Du Du bist, sein darfst, diese Frau und ihr Glas, Dein Glas, rot sei sein Name, innen wie außen, Gewölbe ihr Geheimnis, da fließt sie, flieht sie, vor mir davon, immer, und ich bin da, vor und in dem meinigen Bild, immer. Gestern wie morgen. Nicht wie gemalt. Gemalt. Also ob es kein Heute gäbe. Wer bin ich schon, dass ich nicht auch so eine Frau nicht kennte. Kenne viele, via Niels Sievers, im Vorbeigehen, im Vorbeischauen. Passante.
Paris des 19. Jahrhunderts, genau, Genova 21st Century Girl, Berlin 202122pff, da gehen wir also. Herum. Weit sind wir, flaneuses flaneuses, so mit uns herumgekommen, morgen, gestern: Die MalerIn hat dem Fotografen sein Bild geklaut, frech aus dem Heute heraus. Hat es uns aufgehalst, weil der Fotograf unseren Kopf heute nicht rechtzeitig schießen konnte. Das hat er leider im 21. Jahrhundert verlernt (aber, Vorsicht: werden wieder andere Zeiten kommen). Noch Mal sterben, jetzt, endlich? Nee, heute noch nicht, heute, morgen, vielleicht auch nie. Traue Dich, hau es laut raus: Die FrauEr, eine MalerIn, als FotografikantIn von gestern, als Lordsiegelbewahrerin des Morgens, am Morgen. Dem Morgen der Frau, die Mann geheißen haben mag, mal.
Aufwachen mit Niels Sievers. In einem Land, das Zukunft heißt, das, die schon gestern gemalt wurde. Ja, nein. Er, Sie. Damit wir, wir uns, uns heute noch nicht arrivederci sagen müssen. Noch schauen wir viel lieber dahin, wo und wie das Leben auf welcher Leinwand halt so spielt. Leben blickend.
Ja. Jein. Stadt, Land. Und Du, digitale flaneuse, vergesse. Bessere Dich, vergiss das kryptive Heutefoto von Dir. Foto, sein bereits anblassender Mythos ist dummierende Gegenwart, die meist nur noch dreiste Lüge, Fälsche kennt. Verlogene Dreistigkeit lebt. Was noch nicht einmal böse ist. Oder klug. Denn guck mal, da, wie schön: der Maler, in: Die Malerin: Dir, Mann, die in: Der Frau.
Feist gereiste Dreiste? Nein. Im besten nicht im schlechtesten Falle, Gestern und Morgen, flutet das wahre Leben so direkt zurück vor, in: Deine Augen.

Andreas Bach, 2021